1

Im Bauch des Wals
drei Tage, drei Nächte,
dann ausgeworfen, gestrandet:
was maß diese Zeit, was trieb die Sekunden,
Stunden, Nächte langsam, tropfend, in strammer Muldung vorbei;
der Sand fühlt sich feucht an. Es wären Schritte im Dunkeln,
doch er weiß keinen Unterschied. Taumelnd
hebt er sich auf, seine brennenden Sohlen
stanzen den Weg. Auf wächsernen Muscheln
öffnen sich glanzlose Augen, Seevögel schrillen
ziellos durch ein verlassnes Gehör. Der Gang dieses Mannes
ist sein Sturz in den Schrei, der ihn innen
kreisend empfängt. Innen?

Es ist die Stimme. Wispernder Horizont,
der sich flüstrig verliert, dann wieder, näher,
seine Rede umschaukelt, als habe er
sich nur eben zu recken, die Zunge
rollender an die Küste der Wörter schlagen zu
lassen, um den haftenden Salzgeschmack
des mein mein zu ertasten, Triumph des Gaumens –
diese fast eigene, fast ergriffene, fortgesetzt
sich entziehende, endlich entwichene, ganz entschwundene Stimme:
lautloses Fauchen im Winkel der Nacht, die der Schein
einer Lampe sich umwirft. Besuch, lauernde Bestie,
durch den Herzschlag der Zeit, tick-tack, und das
Hämmern des Herzens hinaufgemindert zum Wirbel
törichter Bilder einer Gefahr, die ihre Kreise
außerhalb zieht.

Ich bin, den du suchst, ich bins nicht.
Du springst mich an, mit dir voraus-
verständigt über mich, ich bin es nicht.
Ich, den du angreifst, bin nicht, den du meinst,
falls du ihn meinst – oder wie immer sonderst.
Gleichviel: wir beide könnten, dies dein Meinen
voraus-, meins nachgesetzt, uns rasch
verständigen, von Grund auf uns verquicken
in einem Wort, gesetzt (zusammen-?)
gesetzt, du sagst es, statt dass so
dein Brüllen mich entleert.


Gesetzt, gesetzt, gesetzt:
durch wen gesetzt (oder gestellt)? Was lag am Weg,
um es zu setzen, so dass der, ders aufgriff, sicher war,
dass er, es greifend, nicht danebengriff. Woher die Hast,
sich zu verständigen, eines Geknurrs oder
eines Gebrülls wegen, das sich verfängt
in Fältelungen, heiß vor Erregung,
mehr zu sein, sich zu greifen, ein Nicht, kaum mehr als ein
ins Kissen gedrücktes, geschwärztes
Noch nicht, gestempelt, quer, über den Geldsinn und die stundenweise befragten
Sonden, flimmernd
um den Ort, Stomachus, wo sich Wirkliches löst, ehe
der Krebs sein Haus bezieht.
Ein Nochnicht, entwertetes Noch (diese Mulde im Universum,
kaum zu ertasten, in der sich die rollende Murmel
ein ums andre Mal fängt), ein gesetztes
Noch, kaum spürbarer Einsatz
vor welcher Gier.

Drei Tage, drei Nächte,
verflossene Zeit, Umarmung
des gleitenden Untiers, anliegende Strömung, bloß
hier und da Blasen werfend, lässliche Spuren,
zerdrückt von Dauer … innen
der entgehende Sinn, das Sich-Umwenden gegen den schlingenden Nachdruck,
Zeit-Sinn, Gegensinn, re-
sistentes Wissen, dass es vergeht, dass eins
das andere mitnimmt. Wissen, in dem
das unterm Druck schwindende,
in Säure gelöste Bewusstsein, ächzend unter dem Anprall des Untiers,
seinen Abgang im voraus genießt. Daneben
(seltsames Wort, ein wenig seitwärts
versetzt, das aus ein und desselben Entrückung
Farbe gewinnt), neben der Zeit, sie durchzuckend, der Tanz
auf feuriger Lava, den im Schwinden sich haltenden Tänzer zeichnend
mit dem Nesselrot des Versagers.

Nicht dass das Los ihn traf, das Kästchenlos –
Merkzettel, flügellahm auf dem Boden der Urne –, oder
der kürzere, vorher geknickte Strohhalm, gebettet
in die Faust des Genarrten, nur ihm, dem Merker erkennbar,
nicht der Wurf hinaus
über die glitzernde Reling,
(er sah die Gesichter, oh ja, er sah die Gesichter
oben und unten, sich spiegelnd, lebewohl)
dies alles nichts, was ihn verfolgte, dass er es aus
der offnen, vors Gesicht geschlagnen Hand
nachlesen müsste, Früchte, aus der Hand
sich langsam, langsam lösend, durchs geschlossene Auge
passierend, dass es –

… Nachlesen? Warum nach-?
Und warum lesen? Einsame Lektüre
der Flammenschrift am Horizont. Stillstand
des Denkens. Keine Brise. Rauch, es leichthin übersteigend, hohe Säule
des nicht mehr Seinen – Haus, Bank, Truhe –, umgeschlagen
in etwas, das noch da ist, da und fort:
nur dieses Schwarze dort, ein Etwas, stetig
aus dem erneuert, was da war, unstreitig seins, und nun für alle
ein Schauspiel, prächtig, niemandem gehörig,
das ihn entlässt, das ihn
entlässt.

2

Grau das Land, grau. Die Last des Himmels
ruht anderswo auf. In den Kavernen
dümpelt Gestank. Tote Segler
kreuzen im Raum. Sie hätten, sagt einer (von denen,
wie man dort sagt, im früheren Drüben)
nicht gewusst, was läuft. Nur dass nichts lief,
während manches nicht lief, das sei ihnen nicht
klar gewesen, obwohl nicht neu. »Es kam überraschend,
doch nicht unverhofft.
Neu, müssen Sie wissen, war nichts hier,
nicht viel jedenfalls. Das heißt, auch das Neue
war uns vertraut. Mehr oder minder. Das Experiment,
es war das Neue. Neues
war nicht vonnöten. Mit Brecht zu reden: Nur das brennende Haus
wird verlassen.« Erlittenes Unleid.
Verhärmt, nicht verbraucht. Gesichter, vom Warten
gezeugt, dann geformt: vom Warten auf nichts, außer
aufs andre, ein nämliches, wieder
grußlos erwartetes, also entwertetes. Wertlos,
ein Los von allem, ins Wegsein. ›Wegmachen‹,
auch ein Wort, das nichts wiegt,
außer die Tage, zu leicht
befundene Tage. Ungerechnet
die Nächte. Verarmte Nächte, vom Traum
bestohlene Nächte, vom Tagtraum.

›Mit Brecht zu reden.‹ Wem sonst. M & E: Die Firma. Tempi passati. Georgij
Dimitroff hieß die Brücke nach Nir-, nach Novana,
Atlantis. Ein vergoldeter August, Ein-August (stark)
empfängt seine Gäste. Zwischen den Plat-ten
Kolonien von Muscheln. Behende schlüpfen
Kaulquappen durch, schimmernde Lurche. In jedem Haushalt
stand ein Aquarium. Angestrahlt, blass, hinterlegt, nun
kurvt es herum. Amönozagen, Versat-
juvenilen. Geschuppt. Leggins. Stumm. Genuss, nicht für jeden: gepökelte
Engelszunge (»sz, wie spricht man das aus? Kellner!«)
Als Dessert wird C. Einstein gereicht, aus der Dose: Bebuquin oder ein Dilettant mehr.
Allerorts Wunder. Keiner,
sie zu bestaunen.

Nicht, um sich Gehör
zu verschaffen – fremdes? wäre es billiger? –,
hergekommen zu hören, Stimmen zu hören, den
fallenden Tropfen, den, der den Ton gibt,
nicht angekommen also, also entschieden
zu bleiben, auch wenn der Regen
sich vor ihm teilt, selbst der Regen:
schon weiß er, dass, was hier geschieht, ohne ihn
sich vollzieht, sich vollzieht. Zur Seite geworfen die Bilder,
die Entwürfe, die Bugwelle des Erdachten:
dieser Drang aus dem Nichts, dem Abseits, nie, nie mehr dorthin zurück, zu intim
war die Umarmung. Er dagegen, neugierig, unentschieden,
schon erpicht, sie vorzudenken, ein Stück zu erspüren – nicht der zurückgekehrten
aus Rausch und Blödsinn –, seiner Zukunft, die im Entgleiten bevorsteht, im
Ent-.

Nicht das Land, nicht die Zeit. Schon gesprenkelt
mit den Früchten des Hohns, den ersehnten,
die bitter schmecken, genossen
unter den Augen der andern, der immer, wenngleich
anders, anderen, der kühlen Geber und Nehmer,
der Über- und Unternehmer, der Aus-
nehmer, der Geber. Zu kurz gesprungen die Gier,
doch schon, im Zorn, sich bereitend
zum zweiten Sprung: was ist, ist nicht, es darf nicht
sein, was es wäre, wäre es, was es bliebe,
wenn es denn bliebe. So aber ist es nichts
als ein Abgrund, schmerzhaft begangen
wie Messers Schneide. Warum also
sollte es nötig sein, das, was wird, zu ergänzen
um das, was nicht ist?

Nichts ist nötig. Das Wasser fließt,
wenn es sein muss, schweigend ins Meer.
Nichts ist nötig. Außer, mag sein, der
Aufmerksamkeit auf das Zuviel
im Zuwenig, dem Hier, das nicht zureicht,
um als wirklich zu gelten, als sei das Verschwinden
in dieser Phase nicht Herr seiner selbst und trete
deshalb ans Licht. Nichts ist nötig. Mehr nicht.

3

Der linke Zeh ist stärker gekrümmt
als der rechte, der andere. Beim Gehen
spreizt er sich ab, doch so, entlastet
vom Gewicht dessen, der ihrer beider Gang ohne Zögern
als den seinen versteht (des Mannes,
der, über den Bauch abwärts, ihn nun
zwischen den Knien beäugt), zeigt er sich
eins und uneins, ineins, mit sich selbst. Entspannt kaum,
eingeschmiegt in die Kuhle, die ihm der Nachbar bereithält,
fährt er hinaus, um zitternd
wiederzukehren. Der sich über sich beugt, tut es
aus gutem Grund. Der Dorn,
zwischen dem Schuhwerk ins Fleisch getrieben,
lässt einen Tropfen Blut auf den Stein
fallen, neben den Schatten,
ins grelle Licht, in dem Mücken sirren, vom Wind sanft gescheucht,
Wind, der sich legt und erhebt und wieder
legt: Stunde, die nicht vergeht. Ungeschlagen
schlägt sie den einen.

Das Haus ist ein wenig zu hoch, doch im Schatten
zweier Pinien fügt es sich ruhig in den Garten, der ihm den Wildbach
– steinernes Rinnsal – seitwärts entführt.
Harmlos liegt die Erde, wer wollte, fände die Helme
bronzener Krieger in ihr. Wozu graben. Zeit steh still.
Sprich dieses Wort, spiel deine Spiele, vertreiben
lässt es sich nicht. Sprich dieses Wort. In dir
behältst du es nicht, so oder so. Im Dunkeln
formt es sich, aber Gehör
bekommt es dort nicht. Das Draußen
trägt es davon, hört er den Nachklang?
Der Dorn ist gegangen, der Schmerz, der zurückblieb,
geht ihm nach. Holt er ihn ein? Morgen
sind sie vereint. Der Dorn und sein Schmerz. Das Haus
steht noch, der Schmerz ist verschwunden, den Dorn
trägt ein anderer jetzt. Blut
fließt, unbesehen, die Erde
kennt kein Erschrecken. Nur in Gesichtern
steht es. Vergeht und entsteht.
Entsteht und vergeht.

Barlachs Güstrower Engel hat einen
Haken: so erscheint er, an die Kette gehängt, schwebend,
wie irgendeiner aus dem Gewerbe,
das er vertritt. Wer ihn befreite, er könnte
ihn leicht zerschmettern, er hätte
ihn in der Hand. Doch darauf
kommt es nicht an. Vielmehr:
wenn einer ihn öffnete, was
fände der? Fände er
im hohlen Raum einen Zettel, auf dem nichts stände als
›Weitersuchen‹? Mitnichten. Botschaft zuhauf. Papier, obenan
die Zeitung von damals (»l’Oggità«),
darunter, broschiert,
Gesinnungen pur. Alle zusammen, und alle
schwebend im Raum: der Unfug
dieses Jahrhunderts. Du: Bote des Unfugs. Die Botschaft
trägt nicht. Was trägt, sind die Füße,
und nicht sehr weit: ein Dorn genügt,
um das zu beweisen. Was trägt, sind vier Mauern,
richtig gefügt. Doch mehr als ein Dach
möchte man ihnen nicht geben. Am Herd
verrecken die Fliegen.

Gong Gong Gong Gong –
was, außer sich selbst, treibt
er hervor, der Stundenschlag?
Sich, sich treibt er
außer sich selbst, ins Ohr,
ins Ohr der Welt, niemandes Ohr,
in niemandes Ohr, Ohr.

4 /1

Es wird Zeit. Das Ungesagte nimmt Kurs
so oder so. Ich weiß es, du weißt es, alle
wissen. Darüber reden:
müßige Übung. Es gibt
bezahlte Sprecher dafür, schließlich. Stellvertretend
erledigen sie, was getan werden muss, aber
schwer über die Lippen geht. Stigmatisierte
unter wachsamen Blicken. Teure Geräte, mit
straffer Sorgfalt justiert – Oh never, indeed, Je est
un autre, Eh vero
–, stehen im Raum. Nichts
soll verkommen, dieser Reichtum
gehört allen. Schließlich gehört es sich so.

Der Eingang
scheint endlos. Da trifft es sich gut,
dass man ihn nicht

4 /2

Kind, bleib weg vom Feuer, es greift
nach dir. Eh du’s begreifst, bist du ergriffen
und fort. Auch die Träume sind fort,
kehren in anderen wieder. Aus löchrigen
Böden steigen sie auf, Duft, ei-ei, gewesen, randhaft, schatten-
haft, haftend, nichts da. Auch die Bilder sind fort,
kehren in anderen wieder. Fast idyllisch das eine, und fast fast
erschlagend das andere, zusammen ein anderes, fast ein drittes aus bei-
den, ein aus-
gelöschtes, gewährtes. Durch alles fiebern
Zahllose fort, die gewürfelte
Unzahl. Falschmünzer Gedächtnis,
durchzogen von qualloser Qual.

zu früh erblickt, stattdessen
diesen Zaun aus geflochtenem Laubwerk, der

4 /3

Dieser Tag, der nicht endet:
Col de Coupe, ein Scheitel
zwischen zwei Fluchten. Gerade recht,
die privaten Dinge zu ordnen,
abzugreifen, was sich ergibt,
dem geschlachteten Huhn
das noch warme Ei aus dem Nest
zu fingern, mit einem leicht verderblichen Ausdruck
in dem, was eine plötzlich aufzuckende Scham
›Gesicht‹ zu nennen verbietet. – »Geht so.«

– sattes,
frisch geschnittenes Grün –,

rechtwinklig geführt, das Auge erquickt

4 /4

Verflossen, unverflossen, verflossen,
abgeschnitten von dem, was geschehen
ist, von dem und dem, allem,
was, recht bedacht, nicht in Betracht kommt:
das Geschehene selbst muss sich entscheiden, bevor es
zerstiebt. Dem Davor hilft kein Da nach, kein Unerleben.

und die Unruhe dämpft. Nach schwierigen Tagen und Nächten

4 /5

Zugeschlagen den Tätern, über Abgründe weg,
nicht zu beschreiten. Zugekehrt
den Toten, den richtig Toten, den Opfern.

im geschlossenen Waggon, von der Hitze gewürgt
und dem Gestank, weiß man sich dankbar

4 /6

Nicht einfach, dem Weg
zu folgen, er schlängelt sich
seitwärts, verdrückt sich
unter knietiefes Gras, um unvermittelt in Buschwerk
abzuschwenken, als wäre leichter nichts
zu gewärtigen. Auch weiß keiner,
ob der Weg, dem er folgt … Trittfest
muss einer schon sein, der Boden
unter dem suchenden Fuß
übt sich in jähem Entzug.

für eine Pause
Das Anstehn, es
macht sich

4 /7

Schattenkämpfe
unter verzwirntem Gezweig. Matte Ergebung,
mauloffen, von Mäulern flankiert.
Ich bin nicht da. Ich bin nicht.
Ich, Haus, Herr: Wer
fragt denn danach.
Kein Ich, kein Haus, kein Herr … Bloß,
verborgen hinter der Stirn, der Jagdsinn.


leicht, die Scham
hat schon gelitten, sie gibt
einstweilen nach,

4 /8

Fangen, auslassen, fangen. Ein Katzenspiel.
Herz, das blindlings davonstürmt,
müde in sich, müde. Fängt sich leicht, denn es
fängt sich nicht mehr. Herbeigeschleppt,
gebeutelt, entlassen, und wieder
gehascht, nicht wieder und wieder, nein,
einfach gefangen.



einstweilen. Der sich am längsten
zurückhält, hält sich am längsten.

4 /9

Der Gezeichnete, auf der Höhe der Kraft,
schlägt. Zurück, wie er glaubt, ins Leere
einer geräumten Vergangenheit. Schattenkämpfe
auch das.

Gemeinschaft, von Mördern
erträumt, auf dem Grund
das Opfer, dunkles Auge,

4 /10

Ausrotten, ausrotten, aus-: den Dekalog
vielleicht? Denkbar, wie jedes, auch das. Denken
hat frei, in allen Punkten. Warum? Es ist
mit sich allein. Ein Makel? Wer weiß. Alle
wissen vielleicht. Aber
wenn alle wissen, wo fand sich
der trennende Grund?

das jeden anblickt. Auch hier



sind Menschen, auch hier. Der Himmel, sagt man,
war nachts

4 /11

Lust? Doch, sicher hinter Gardinen:
Blick auf den Nachbarn, versteckt.
Endlich enttarnt. Ich, ich
bins nicht. Durchatmen. Ich
war niemals gemeint.


rot. Besser nicht wissen,
entscheidendes Nicht, eiserne Fratze.
Frage, stählerne Feder,
gehärtet im Feuer der Scham, dem rastlos

4 /12

Scattered, zerfetzt, in alle
Winde zerstreut, verweht.
Samen, Samen, zertragen,
zerblasen
vor dem Mund ohne Antlitz,
in die Flüsse geworfen,
verscharrt, mundtot
gemacht, hand-, fuß-. Trauer, was ist
Trauer. Was ist, Trauer?
Sie kommt, kommt
nicht, ist schon gegangen. Wird schon
gegangen sein. Wird schon.

schwelenden.
Aussparen …    Die Rede spart ihre Kräfte
an dem, was schwer wiegt. Diesen Brocken
mag sie nicht heben, sie wirft

4 /13

Das Neue, ›Glasnost‹, ist
ohne Blut nicht zu haben. Die erste Nachricht
ist das Gemetzel. Welcher Erschlagene weiß
um den Tatsinn, der ihn vernichtet?
Im Fassungslosen, versteht sich,
im ersterbenden Laut, im erstarrten ›Wo bin ich?‹ ersteht
das Fassungsgrab
der menschlichen Dinge.

scheue Blicke auf ihn, immer wieder

schiebt sie sich an ihm vorbei, streift ihn, sucht

den schürfenden Grat, den

4 /14

Sie haben den Mythos gewollt
und bekommen. Diese Geschichten
werden sehr lange erzählt werden. Sie sind
die neue Bibel. Biblia pauperum. Die schlimme Botschaft
vom Menschen.
Jahrhunderte werden vergehen,
ehe der Kanon fixiert ist.
Völker werden sich zu ihr bekehren,
noch unbekannte. Andere werden
staunend den Anprall erfahren
und Gegenmaßnahmen ergreifen. Vielleicht…
aber nein.

Riss.

Grauen, die stärkere Fessel,
vor wem?  Niemand da?  Keins,
das sich zeigte.  Ich, schweigsames Kraut.
Auslöschen, wo es sich

4 /15

Die Mitte, verschlossen,
der Frucht. Entsorgung des Lebens.
Besorgt, auch sie. Nil admirari.
Schließt auf zur Tat: Annihilare.
Was kommt, was
nach dem Glück der Gemeinschaft?
Sie selbst, keine Frage.

zeigt. Striche,
ins Gelände gesetzt,


Gestirn, teilnahmslos, Abfall.
Eine Hand Schlamm lehrt dich

4 /16

Wenn nach den Toten
auch ihr Andenken verscharrt ist,
wenn die Schuldfrage
aus der millionsten Erörterung
auftauchen wird, als habe sie niemand erwartet,
wenn die Frage ›Wie war das möglich?‹ nicht länger
den Horizont verdunkelt, wenn das Geschehen,
wieder kindlich geworden, dem Schweigen entrann,
werden wir nie existiert
haben. Nur der leichte Schatten
auf einer polierten Fläche,
groß wie ein Fingernagel, bewahrt
einen Teil jenes größeren Schattens,
der uns versehrt.

gleiten. Lust: Schwere des Daseins
aufgehoben, köstlicher Augenblick. Blick,
der im Überblick aufgeht. Durchgeht. Geht.

4 /17

Zwei Schenkel, ins Moos
getrieben. Taub aufgeschossen der eine,
sanft zur Seite gebogen der zweite,
im Gestrüpp sich verlierend.
Weiß, trocken, geschält: nackt
bis auf die Knochen.
Zweierlei Rohr, der Wind
pfeift drauf und drüber.

In den Schatten geschnitten
die offene Wunde:
wir, wie zuwenig,
sind ein Zuviel.

5

Gong gong gong –
gong
lass dich ein, lass
lass dich ein, lass –
›Lass oder sei verlassen, es läuft
auf dasselbe hinaus…‹
›Ach ja, wirklich? Aber der Richtungssinn
hat gewechselt.‹
›Geschenkt. Nichts ist wirklich.
›Korrekt.‹
Blutender Ziegel, in den ein Blick seine Kralle schlägt:
un nuov’ aspett’. Ein Wimpern-, ein Brückenschlag. Die Maut
entrichtet jeder. ›Aber liebend, wenns geht.‹ Vermeer der Zöllner, ach:
›dass er den Kenner nicht mehr erlebte…‹
›Das macht
das Glück der Toten.‹
›Keine Frage, der Typ
wäre ihm schrecklich gewesen.‹
›Wer? Swann?
Na ohne Zweifel.‹ Zweifelsucht weiß, ihr Verlangen
nach Überzeugung ist ohne Fehl. Seit in den Köpfen
der Deuter spukt, fehlt an den Mauern von Delft
ein Stück.
›Ein Nichts.‹ Übersonntes Gespinst.
›Sagen wir doch,
ein bisschen Firnis.‹ Forschernägel
kratzen daran. Wer etwas fand, er fands
nicht im Bild, nur in sich selbst. Da
rekelt sich vieles, das niemandem abgeht,
außer es dämmert beizeiten,
was ihm bevorsteht. In seinem Namen aber
suchen sie alle. Die Fährte,
einmal gelegt, ist aus der Welt … wie sagt man?
nicht zu entfernen. Wohl entfernt sie uns dich, Vermeer –
›Das
zählt zu den kleineren Übeln, darüber gehen wir weg.‹

Unter Träumen zum Beispiel findet man Ähnliches.
Auch unter Tränen, den neolithischen Schwestern.
Letztere trocknet der Wind … ›eine der leichteren
Wandlungen und im Erwachen
macht sich die Schwerkraft davon –‹
›Nee wirklich? Ich dächte, es läuft
anders herum.‹
›Das ooch, aber in Wahrheit…‹
›In ihr, mein Lieber. Immer in ihr.‹
›Das Mauerstückchen, wir sprachen davon,
ich für mein Teil bewahre eins
auf. Es bringt Glück, weißt du, zu wissen,
hier wurde scharf
geschossen. Das Ding
zerteilte Welten. Ach es schneidet
noch immer. Hüben und Drüben. Der Stein, sagt das Gefühl,
hat etwas Unerbittliches. Keiner, Marcel, wär das
zu analysieren imstand. Keiner.‹

Die Partei ist nicht tot, sie lädt zum Fest:
»Fête du Mauerpark.« Wer es nicht las, der hälts
für gut erfunden. ›Frei erfinden, das wäre?‹
›Angeln in
trüben Gewässern. Ergreifen,
was dich ergreift.‹
›Also geschenkt!‹
Trügerischer Ort,
Stein um Stein rundgemurmelt und leer. Soeben
trollt der Schmarotzer sich fort, ging, wie ein anderer,
ging, gong, in diesen wie anderen Zeiten.
›Standen die Dinge auch schlecht, immer ging es lala.
Nur diese plötzliche Leere
ist schwer zu ertragen.‹
Irgendwie, summt die Stimme des Mittags.

Nachts kalter Regen, der wispernd
ins Wasser fiel und den Morgen
Mit Dämmerung schlug. Nachmittags dann
hörte der Regen auf und die Sonne schien
ab und zu durch die Wolken.

Das Gedicht ist … ein Stück Zeit. Nur
der Mauerspecht weiß die Stelle,
wo er es brach, er könnte dich führen,
wenn du ihn ausmachtest, doch klingt
sein Hämmerchen fern aus der Nacht.
Lückenlos scheint das Bauwerk, du
tastest vergebens. Glatte Fügung,
meldet der Griff, nicht zu erweichen. Unpassend
bleibt dieses Stück. Ein wenig Firnis, nur: Abglanz
liegt nicht darauf. Nicht ein Gran liegt
ihm auf. Die Luftsäule vielleicht,
das unabweisbare Gewicht.
… Fort. Der Zorn hat keine Zeit. Ihn
trägt das rollende Grollen. Es
trägt ihn dahin. Dahin und dorthin.
Aber das Hier spart ihn aus. Raum
zeigt sich im tonlosen Geflecht,
im Wetterleuchten, im trägen Blitz; der Abgeklungene
bleibt zurück, bleibt ortlos. Im Zorn zeigt
sich nichts, außer dem Abstand.
›Wer zückt die Fackel am Mittag? Vielleicht … ein
Säufer am End?‹
›Warum nicht? So etwas lässt sich
rasch überprüfen.‹
›Ach? Dann los,
fangen wir an. So ein Anfang
bleibt unabdingbar. Ohne ihn
passiert nichts.‹ –
›Das wiegt so leicht,
leichter als Atem sogar,
geht mit dem Wind…‹
›Eingangs geniert sich
der ein und andere, dems später flott von der Hand geht,
verdächtig flott, ahnt man den Grund…‹
›Grund, Abgrund. Dafür
kann keiner.‹
›So ist es. Aus Abgründen
blickt das Gewesene. Dem entgeht niemand.‹

Nicht im Gebrüll, nicht im Schluchzen,
nicht in der gellenden Stimme,
nicht im Anschlagen der Dogge, aus dem der Herr blafft,
nicht im Gesäusel, o nein, nicht im Gesäusel.
… Die Stimme bricht, bricht hervor. Leicht zu erkennen
an ihrem Rostrand. Ein starker Bluter,
blutet sich aus. Bald erinnert nicht ein Zweig mehr
an den Ort des Geschehens. Zeugnis
gibt nur die Schrift. Wer es mit ansah,
rätselt darüber … ein versunkener Alter,
dem das Gewesene glänzender wurde,
wirklicher als der Kehricht des Mittags,
den eine Nichte vergaß und der nun, zerstreut,
ihre Rückkehr erwartet, sich zum Geschenk.

Die Partei ist nicht tot, sie lädt zum Fest:
»Fête du Mauerpark.« Brot teilt sie aus und roter Wein
fällt in die Becher aus Plast. Kein Ding erinnert an früher.
Alle sind Heutige. Nur der Weg
nach Pergamon ist gepflastert mit Einschüssen:
quer durch die Luft rühmen die Lücken im Stein
den Zug der Götter. Verjährt. ›Für uns Zehnjährige waren die Russen
übermenschliche Wesen.‹
›Wie für Sartre die Wehrmacht,
bloß ein paar Jahre früher –‹
›Ach. Ich dachte…‹
Pallas die streng Blickende schlägt
jede Entgegnung nieder. »You are a goddess, too.« Japanese Venus,
diese Runde geht an dich. Dir fehlt nichts … als
ein Lächeln vielleicht, ein Flugloch, nicht zu verachten,
für die Bienen des Glücks.
»Deutsch sein heißt –«
Aber so wie du bist
»eine Sache um seiner selbst«
»um ihrer, mein Lieber, um ihrer!«
›Das einzige Volk, das den Sieg
nicht mehr will, weil es den Mord‹
vollkommen für eine Zeit,
die diesen Moment überdauert
›weiß, den er deckt,
eingebrannt …‹

Nachts kalter Regen, der wispernd
ins Wasser fiel und den Morgen
Mit Dämmerung schlug. Nachmittags dann
hörte der Regen auf und die Sonne schien
ab und zu durch die Wolken.

6

für Steffen Dietzsch

In diesem Sommer,
in dem die Kommunisten ihre Opfer begraben,
in diesem Sommer
stirbt eine Idee. Sie ist
durch viele Tode gewandert, durch allzu viele, doch dieser
kommt anders. Der Tod durchs Gedenken
löscht ein strahlendes Morgen
für immer. Die Utopie ist gestorben. Widersinnig
heißt von jetzt an, was lange
als unwiderlegbar galt. Widersinnig
heißt von jetzt an, was lange
als gerechtfertigt galt, vor jeder
Begründung. Nicht unterlegen, nicht widerlegt
durch den Gang der Geschichte – elende Phrase –, gemästet
geht sie dahin, kein Opfer
enthielt man ihr vor, nicht das geringste,
kein einziges.

In diesem Sommer
schwimmen die Fische anders. Das Wasser
trägt sie nicht länger. Trauer trägt es. Schwer
trägt es an ihr. Noch immer formen sich Lippen,
nicht, um zu leugnen, bewahre, nein, in fast stummer Verachtung
sondern sie Worte ab, wertlos
wie das Kommando von gestern. Auch sie erinnern sich. Anders
ticken die Uhren, anders im abgestorbenen Raum,
in dem die Fliegen, Gefährten des Totschlags,
die Differenz erkunden.

Die Toten schrecken. Schrecken sie wirklich? Süß, schwer, ölig
teilt und vereint sich die Luft. Ströme versiegen
im Nu, andere brechen hervor. Abwärts
schwimmt es sich leichter, und ›hingerissen‹
bleibt ein seltsames Wort. Eindeutig fast. Auch das zitternde Laub
hat seine Lust, glänzt unter der Sonne.

Wie lange reicht eine Erinnerung? Was
kommt, wenn sie vergeht? Wie viele Tode
stirbt eine Idee? Was
erschöpft sie am Ende? Kraft welcher Verwandlung
kehrt sie ins Leben zurück? Jeder Einfall
befremdet auf Zeit. Denken
kennt kein ›für immer‹. Was einmal erdacht wurde,
lässt zahllose Zugänge offen. Niemand schließt
diese Tür. Nur die Klinke
wandert von Hand zu Hand.

Unser Vorrecht
ist das Entsetzen. Ein Teil der Schuld
geboren zu sein. Nachgeboren: geboren
nach den Massakern. Geboren
nach der Ermordung des Ichs, dem großen Experiment.
Nach der Erschießung der Luft, der Erdrosselung der Flüsse,
nach dem Verbrennen der Erde, der Umerziehung des Feuers.
Nach den Lagern, nach den Entehrungen.
Nach dem Hunger.
Nach der Vernichtung der Gegenwart durch die Zukunft –
diesem einfachsten Grauen, zusatzlos
wie das Jenseits, eine schlaue List
der Geschichte.

Unser Vorrecht
ist das Entsetzen. Ein Teil der Schuld,
mitgeboren zu sein. Gewusst, nicht gewusst. Das gleiche Spiel,
die gleiche Scham. Während wir unsere Väter befragten,
düngten die mit uns Geborenen Felder,
über die andere trotteten, stumm, mit herausgeschnittener Zunge.
Unsere Parolen: welche Lust
denen, die wir verleumdeten
weil wir nicht wahrhaben wollten.
Unser Gelächter: welcher Genuss
denen, die wir besudelten
durch einen fröhlichen Aufstand.
Unser Bescheidwissen: welches Vergnügen
denen, die wir zurückließen
auf freier Fahrt in der Zeit.

Der große Fang. Leer
hängt das Netz in der Luft.
Die Fische, eine Handvoll noch, zappeln nicht mehr:
ein Löffel Eiweiß. Die Kundschaft hat sich zerstreut.
Wirr ragen die Hebel. Das große Rad, das Leben und Tod bedeutet,
ist festgestellt. Ein kleiner Zapfen genügt, wo ein Wille
Massen ins Trockene hob. Schauspiel auch das.
Die Krabben kümmert es nicht. Unter gespannten Seilen
schieben sie seitwärts, spezialisiert auf
Opfer anderer Art. Auch sie findet der Tod
sprachlos.

Wenn die Archive sich öffnen,
wächst die Nötigung, über Zahlen zu reden:
20, 60, 100 Millionen … ein Fetzen Papier, das Wort eines Schlächters
gibt den Ausschlag. Bestreitbar ist alles.
Auf dem Basar der Geschichte zählt das Verbrechen
zu den begehrten Trophäen. Auch hier
winken Karrieren, was sonst? Eigennutz kehrt das
Unten zuoberst. Nerven, die braucht es. Nerven.
Mancher verliert sich und kommt nicht zurück.
›Kinder zu Dünger‹? Vorsicht: Klippe.
Falsche Lektüre, im Zeichen der hochgezogenen Braue
kaum zu verwerten. Nichts wirkt befremdlicher, nichts
beschädigt wirksamer als Blutdunst
im Gehirn des Ermittlers. Originell heißt,
wer die Klippen umgeht. Leben heißt leben. Gelungen
ist nur ein Scherz.

7

Wenn der Tag geht, kommt schon die Nacht
Wenn der Tag geht, kommt schon die Nacht.
Wenn der Tag geht –

Scheu bis zuletzt. Verschwiegen bleibt
der Geschmack des Todes unter der Zunge,
unbeschreibbar, glaubt man, mit nichts
zu vergleichen. Das mag so sein,
das ergibt Sinn, einen guten sogar,
darum sagt es sich leicht. Beredter
wäre das Schweigen, wüsste man mehr:
Wie viele zum Beispiel
kennen ihn gut, wie viele wohl
peinigt er täglich, rund um die Uhr?
Denkbar, durchaus, dass mancher ihn
gar nicht kennt. Nur der Drang, auch hier
mitzureden, übermannt ihn spontan.
Denkbar gewiss. Doch wer nicht fragt,
der bekommt keine Antwort.
›Welche Nacht?‹
›Nacht.‹
›Allein?‹
›Ja.‹
›Das
wäre das Minimum. Überfällt
es einen?‹
›Wohl kaum. Sagen wir: Es
stellt sich her.‹
›Angst?‹
›Eigentlich nicht.‹
›Dieser Punkt,
er bedeutet mir viel: frei von Angst?‹
›Keineswegs. Angst ist da, aber sie gibt
nicht den Geschmack.‹
›Was gibt ihn dann?‹
›Wie gesagt: er stellt sich her.‹
›Woraus?‹
›Gute Frage. Sehen wir zu.‹

Also los. Die Plaza ist nichts
als ein Rinnstein, nur breiter. Nun,
kein Kolumbus nähme das leicht.
Gut so. Musen mit Übergewicht
nicken dir zu. Wie huldvoll. Da
zeigt sich wahre Distanz. Im Netz
schwimmt der Fänger. Blick-, Kugelfang:
keiner entkommt ohne Blessur.

Warum hier?
Keine Ahnung. Null.
Plötzlich beginnt es. Ein Stein
löst sich, ein Stein.

Das Kindergesicht, zitternd im Sog
der Presslufthämmer, wäre kein
Urinal, besser vergliche man es
einer geschälten Frucht. Innen und
Außen sind eins. Differenz gibts nicht.

No es la muerte, es la tienda de frutas.

›Weiter gehts nicht. Hier im Geviert
endet der Weg.‹ Was genau meint
so ein Floh-Satz? Dem, der sich kratzt,
hieße er wohl: Alles, was grad
hier begönne, es endete schon
einmal, ein andermal – dies Mal
lässt es dich aus. Hiersein ist ›kalt‹.

No es el infierno, es la calle.

Dieses Tosen, ein Vorhang, bloß
fürs Gehör. Was immer fort will,
muss ihn passieren. Im Tief-
Schlaf gelingt es. Zurück
erklimmst du den Bahnhof der Ratten. Die eisernen Tritte
trommeln den Sound der Entweichenden.
An ihren Absätzen magst
du sie künftig erkennen, wenns not tut.
Vor der Hand tut es das nicht.
Auch hinter ihr tut sich
nicht so viel. Non sapei tu che qui
e l’huom felice?
Man sagt so.

Besser man schweigt. Jenseits von Lethe
wird Leben teuer. Im Paradies
der Fensterputzer sind die
Scheiben verspiegelt. Der Traum des Voyeurs
löst keine Rätsel. Matt
leuchten die Flächen. Nicht ein Blick
ist verstattet. Leben im lotrechten Raum,
ohne Absturz. Anteilslos
gleitet der Korb seitwärts und ab-.

Nur per Aufzug erreichbar: Warhols
The Last Supper. Der Meister des zweiten Stocks
fabriziert seine Jünger. Oberfläche auch das.
Liegt da, wegtauchend, die Angst obenauf?
Friedlich, wie immer, glänzt
das Glück auf der anderen Seite der Schlucht.
Wer verträgt das Unverdauliche, das ihn verdaut?
Keiner. Leben straft den Versuch,
sich ihm zu nähern. Kein Fuß trägt dich
zurück. Erklär mir, Liebe, nichts.

Scheu bis zuletzt. Verschwiegen bleibt
der Geschmack des Todes unter der Zunge,
jäh erwacht, grundlos, die lange Qual
vor dem Abschied. Angst? Aber ja.
Nie davon reden, es gibt
keinen Anlass. Bloß diese Strecke, zu
ausgeleuchtet vielleicht, der Kies
knirscht unterm Fuß. Die doppelte Jungfrau
wiegt nicht die eiserne auf,
Trumps und Vanderbilts findet man leicht
auch unter Pennern. Ohne zu zögern
hisst der Plastikmensch sein Gebiss,
klaglos rollt er dahin:
Omnia mea mecum porto. Wo
steht, an welchem Ende der Stange
man mehr Kraft, List, Findigkeit braucht,
sich zu behaupten? Bad question. Gut steht
ihr der Müllsack, prêt-à-porter,
ungemein kleidsam. Ja, Magie
ordnet die Welt. Oder auch nicht.

8

Es wäre zu fragen, ob
nun, da der Zug der Zeit
rollend, wie stets, sich entfernt
von Orten, an denen ›der Geist‹
alles verlor … ein ausrasiertes Gesicht (›Ecco, la prima vista!‹),
von den Örtern des Unheils,
als sei entzwei da
ein Heil gegangen … neugierig fast
irrt es in Schüben, vorbei, an Siedlungen, harm-, namen-
losen zuletzt: da, da
beginnt das Problem…
zu fragen wäre,
zu fragen, wenn möglich, zu fragen –
quälte da nicht die Stimme,
Stimme, die eifrig versagt –
nein, nicht am Glück, nicht
›am Staube‹ … – Mundflüchtig
verzehrt sich das Wort. Sprachlos, im offenen O
bewahrt es das Ungesagte. ›Was verschwindet?
Was hält sich? Welche Toten
findest du ansprechend? Schönheit vor Alter?‹ Fast alle
enden entsetzlich. Der stumme, nach innen erstickte,
noch dem Seufzer entzogene Exitus schreckt
fast zu sehr. ›Qualvoll‹,
was heißt das? Wo die Empfindung aussetzt, da
beginnt das Grauen.

›Fast, fast, vergiss
das Leid nicht, das sich die Sporen
verdient, das maßlos
erzwungene…‹

Wort sei langsam, es kommt
nicht oft vor, dass ich
so mit dir rede, ich hör dich
ja kaum. Sooft ich mich strecke, es bleibt
immer dazwischen und doch
vernehme ich dich. Jahr um Jahr überflüstert,
flüstre ich auch. Man versteht mich nur schlecht,
sagt man. Obs stimmt? Ich will da nicht raten.
  Sei dieses eine Mal deutlich,
erspar mir nicht, was ich verwarf,
weil ich dir folgte, und ob
spät ein Gewinn es vielleicht
aufwiegt. Versteh mich nicht falsch,
ich will nicht gewinnen, nichts will ich, doch nützt
dir ein Verlierer so viel? Besser wäre vielleicht,
du vergäßest mich ganz oder du löstest
heimlich die Fessel. Wer sagt denn,
dass es nicht eh schon geschah? Gestern?
Vor einem Jahr? Vor hundert? Odd’r…? ›Hi, fixe Idee.‹

Genau sein. Ganz genau
sein, den Punkt benennen,
den keiner sieht, obwohl
jeder ihn spürt und auf seine
Weise bezeichnet, brodelnd
in stummer Ergebung oder vom
Zorn übermannt, anlasslos, wie es dünkt, doch
dem es dünkt, ihm dämmert es auch.
  Geh langsam heran. Keine Hast, du bist hier
nicht unter Lebenden. Von JENEN, du weißt es,
erwartet dich keiner. Warum auch? Einmal vergangen,
wechseln die Schlösser. ›Heimsuchung‹
heißt die falsche Rückkehr, das Trauma. Ein Mahr –,
ein Märchen. Angst
kennt die besten. Die Angst, wessen? Allerhand Sorten
bewahrt das Gedächtnis, doch hier
nennt keiner sich Meister. In Spuren
tauchen sie auf und unter, die Lösung
gibt sie nicht her. Nur die eigene
kennt jedes Maß. Übertrumpft es mit nichts.
… Geh langsam heran. Alles
muss stimmen. Ganz. Die Stimme
lebt im durchfluteten Raum, im Luftmeer. Drunter
tut sie es nicht. Zwischen zwei Schauern
tanzen die Mücken hinaus … unter dem Bogen
erfasst sie der Schrei.

›Wir glauben zu kennen, wir beugen
das Haupt, wir könnens
nicht anders. Das ist unser Glaube.‹
›Ein letzter
wie alle, ein Grund: kratze
an etwas und er
tritt hervor.‹

Du hast die Namen gelesen
Schnitte in schwarzen Basalt
BELZEC … MAJDANEK … SOBIBÓR
Wohin du dich wendest: dasselbe.
Dasselbe, dasselb-. Über diese Stufe
hebt dich kein Schritt. Ohne Körper
verlässt du den Raum. Den schwarzen Ring
nimmst du mit, die Schwerkraft
lässt dich nicht aus.

Komm schon, höhnt das Gemurmel, du weißt es:
du weißt alles, wenn nicht, deine Poren schwitzen
es aus. Überall warst du dabei,
an allen Orten, vor deiner Zeit wie in der, die kommt. – Zu spät,
zu früh. ›Bittsehr, setzen Sie sich, man lernt
immer dazu.‹ Man lernt
immer dazu. Mehr wird man nicht, eher weniger. Der Unbedarftheit, ihr folgt
das Wissen. Dem folgt
das Unbedarfte.

Wie hält man stand? Waffenlos, ohne blindlings
um sich zu schlagen, ein Kind. Grausames Spiel; verraten die Blätter,
wohin es geht, der klirrende Wirbel? Kein Wort.
Manche will da nach Haus. Im Umdrehn stockt ihr das Blut.
Auch das Metapher: ein Lot
über den Zeiten. Los, los,
pack deine Sachen, der Rest
legt sich als Asche auf dich.

Geh zurück, Ionas, die Stadt, die du suchst,
ist schon zerstört. Das ist
nichts besonderes übrigens. Beispiele findest du leicht, geh nur
zurück in die Kindheit. ›Heimwärts.‹ Zwischen Wänden aus Wellblech
läuft der Ball traumhaft und unter Trümmern
liegen die Schätze.

Geh zurück, Ionas. Nicht in die Kindheit, was sollte dich locken,
ein Schatten, mag sein, ein vom Krebs
gezeichneter Umriss … Auch er
hält dich nicht auf, geh einfach
rückwärts, an Weinbergen vorbei, kein Maultier
säumt deinen Weg in die Sonne; der Brand
ist nicht zu löschen, bevor er dich einholt,
erloschen wir längst.

Unwirklich ist die Vernichtung,
wo ein Schritt den, der vorausging,
hinter sich lässt, spurlos, nicht zu entdecken.
Aufmerksam geworden, entdeckst du die Löcher im Wirbel
aus Gewesenem, Kommendem und –
›Zugegen‹ ist nur der Raum. Im Gewesenen
gibts keine Orte. Kein Atom
scheint zu trödeln, der ›zeitige‹ Aufbruch
duldet kein Zögern. Schwer
fällt es, die Augen zu schließen und
nicht zu sehen, was unterlasslos geschieht:
jedes, das ist, reißt sich davon; flusengleich
haftet es hier und da, husch
ist es verschwunden. Stoße hinaus in den Raum,
ergeh ihn: hinter dir, vor dir
klappt er zusammen wie nichts … Geronnene Zeit
auch er, die glitzert im Regen
kühl geschätzter Partikel – denn, mach dir nichts vor,
endlos ist nur das Ende. Zu denken, dass es sein Ende
selbst in sich trüge, das wäre
eher des Guten zuviel. Soviel Unrast
lässt sich nicht denken. Was lebt, hat gelebt, Träume
sterben mit dem, der sie träumt. Es gibt keinen Rest. Das ist
die Ehre der Toten.

9

für R.

Im Raum, Nadja.
Im Raum.
Trauer
klaftertief. Was ist
ein Klafter? ›Schwer zu sagen,
6 bis 10 Fuß. Je nach Fuß,
würde ich meinen.‹

Raschle den Sack. Sind noch Sachen
vom Vorjahr drin? Keine Ahnung. Sicher gebraucht.

›Vergiss nicht zu
bügeln. Das Eisen
steht in der Kammer.‹

Mutprobe. Trockenblut.
Im Dunkeln schreiben; lesen
im Licht.

›Sei nicht verletzt.‹
›Wenn ichs wäre?‹
›Psst. Hörst du den Vogel?

›Sadr heißt der Typ, Sadr.‹

›Sag mal, wie zahlt man Kopfgeld?‹

›Kannst du
stehlen?‹

Moder, ein Ton
zwischen den Blüten
die Läuse

Blatt, Heuschrecke, Blatt.
›Fame, Nadja.‹

›The tension
brought me back‹

Dolden, starr von Verlust.
Schweigsame Bande.

Der Meeresriegel
schottet den Horizont.

›Ab, mein Lieber.
›Wie bitte?‹
›Nichts. Ich meinte
mich zu erinnern.‹
›Lass doch,
es ist immer dasselbe.‹

Im Raum, Nadja.
Im Raum.

Verwittert, talwärts
züngelnder Grund: aus diesem Stein
sintert das Licht,

Vorsicht Sturzgefahr! Es stürzt aber niemand, der Weg
ist ›gesperrt‹. Auch geht ihn keiner
mit geschlossenem Aug, sogar der Sehende
überblickt nur wenig. Ein kurzes Glück. Du kennst es noch gar nicht und schon
bist du draußen.

Vielleicht habe ich heute frei.

›Selbstverständlich. Vergiss nur nicht, für Proviant
und andere wichtige Dinge zu sorgen: Lektüre
zum Beispiel.‹

Die für die Insel?

›Die für die Insel.‹

Im Raum, Nadja,
im Raum.

Nur für Krieger passierbar: die Furt.
Der Zaun, gestern. Aus der Zeit gestoßen, dem ewigen
Heute. Flach sieht sie aus, die Erinnerung, flach.
Auch das mag Glück sein. ›Verzeih.‹ Eine Drehung, jäh
erschließt es sich neu. Wie verächtlich
redet man von den Toten, wie steinern
sehn sie dich an. Hohlköpfe. A Dieu. Aber … ein paar gekritzelte Worte,
am Boden zerknüllt, unleserlich praktisch, verändern
rücklings den Weg. Ineins
erfüllt dich das ungelebte,
dein anderes, aller Leben vielleicht, ein Blätterrascheln,
ein Huschen, ein Kleid, das sich bauscht, eine Miene, die sich erhellt

silberschuppiges Meer.

In dir, Nadja.
In dir.

Impressum

Ulrich Schödlbauer : Ionas. Gedicht
Buchfassung: Heidelberg (Manutius) 2001
ISBN 3-934877-03-6
Netzfassung: Acta Litterarum 2009/2015
Alle Rechte beim Autor.

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